Legasthenie? ADHS? Oder nur ein Sehproblem?

Manchmal wird ein Kind als dumm, faul, legasthenisch und als ADHS-Fall beurteilt, dessen Problem an einem ganz anderen Ort liegt. So ging es dem Kind einer Frau, die ich vor Jahren als Kursteilnehmerin kennen gelernt hatte. Bei einer Gelegenheit traf ich sie an einem Anlass zusammen mit ihrem Sohn. Sie bat mich, ihn kurz anzuschauen, da er kein guter Schüler sei, und da ich bei der Mutter selbst (am Rande des Kurses) eine Konvergenzschwäche festgestellt hatte. Ein kurzer, oberflächlicher Test am Rande (es handelte sich ja nicht um eine Konsultation) zeigte, dass dieser Bub eine ausgeprägte Konvergenzschwäche hatte: seine beiden Augen waren kaum in der Lage, sich gleichzeitig auf das gleiche Ziel auszurichten, d.h. darauf zu konvergieren.

Versetzen Sie sich bitte kurz in die Lage einer Person mit Konvergenzschwäche oder Schielen. (Der Unterschied besteht darin, dass das Schielen eine unterschiedliche Blickrichtung im statischen Zustand darstellt, und die Konvergenzschwäche im dynamischen Betrieb.) 

  • Ihre beiden Augen schauen in unterschiedliche Richtungen
  • Sie sehen den gleichen Gegenstand, das gleiche Wort, den gleichen Buchstaben, gleichzeitig an unterschiedlichen Orten (jedes Auge an einem anderen Ort)
  • Buchstaben wie W und M werden völlig unleserlich, wenn sie als Doppelbild mit leichter seitlicher Versetzung gesehen werden. (Schreiben Sie doch einfach einmal diese beiden Buchstaben doppelt, leicht seitlich versetzt übereinander, um diese Situation zu visualisieren!)

Es ist offensichtlich, dass das Lesen und Schreiben Lernen schwerfällt, wenn nicht ganz unmöglich wird. Auch intensives Training hilft nicht, denn die Konfusion zwischen „doppeltem (leicht versetztem) W und doppeltem (leicht versetzten) M löst sich nicht, auch wenn man sie sich 1000 Mal vor Augen führt.

Ich habe der Frau und ihrem Sohn also die Konvergenzübungen gezeigt und nahegelegt, die ich in der Posturologie zwecks Haltungskorrektur anwende. Sinnvollerweise macht die ganze Familie (mitsamt Eltern und allen Kindern) diese Konvergenzübungen, denn gemäss statistischen Erhebungen haben 93% aller Personen eine Konvergenzschwäche, und die Folgen sind vielfältig. Kopfschmerzen gehören z.B. typisch dazu.

Nun kürzlich, etwa ein Jahr später, begegnete ich dieser Frau (die in den Bergen und recht weit weg von mir wohnt) zufällig wieder an einem Anlass. Sie berichtete, was sich in der Zwischenzeit ergeben hat:

Ihr Sohn, mittlerweile in der vierten Klasse der Primarschule, war mittlerweile alle die Jahre als schlechter, uninteressierter und verhaltensauffälliger Schüler betrachtet worden. Und erst jetzt wurde festgestellt, dass er relativ stark kurzsichtig war: von seinem Sitzplatz im Schulzimmer war es ihm nicht möglich, die Wandtafel klar und deutlich zu sehen! Dass Augenärzte und Optiker eine allfällige (und mit 93% aller Personen extrem häufige Konvergenzschwäche) völlig ausser Acht lassen, ist bekannt. Dass aber eine ausgeprägte Kurzsichtigkeit erst in der vierten Schulklasse festgestellt wird, ist fast unvorstellbar!

Nachtrag:

Eine Überprüfung der Sehschärfe führe ich in meiner Praxis nicht durch, da ich davon ausgehen, dass dieser Aufgabenbereich von Optikern und Augenärzten gut wahrgenommen wird. Hingegen gehört eine Überprüfung auf Konvergenzschwäche und Heterophorie / verstecktes Schielen häufig zu meinen grundlegenden Tests: dies auch ausserhalb der Posturologie, z.B. bei Problemen wie

  • Schulproblemen, Lernproblemen, Verdacht auf ADHS
  • Stirnkopfschmerzen
  • Spannungskopfschmerzen, Nackenverspannung
  • verschobene (subluxierte) Wirbel im HWS-Bereich: Atlas, Axis bis C6 und C7
  • alle Probleme, die mit solchen verschobenen Halswirbeln im Zusammenhang stehen können
  • Angst, im Dunkeln und bei schlechter Sicht mit Fahrzeugen unterwegs zu sein
  • Schwindel, Höhenangst, Gleichgewichtsstörungen, See- und Reisekrankheit
  • Sehprobleme trotz neuer Brille, oder gerade verstärkt auftretend mit neuer Brille
  • Probleme seit einer Augenoperation
  • Schnelle Ermüdung beim Lesen
  • etc. 

Der Test auf Heterophorie braucht einfache Hilfsmittel und dauert nur wenige Minuten.
Der Test auf Konvergenzschwäche funktoniert sogar ohne Hilfsmittel und dauert nur wenige Momente.
Die Therapie besteht aus Augenübungen, die in der Regel innert weniger Wochen eine deutliche Besserung bewirken. Bei ausgeprägteren, hartnäckigeren Fällen und im Zweifelsfall empfehle ich eine Abklärung bei einem geeigneten Augenarzt: möglichst einem, der auch „Sehschule“ anbietet und eine Orthoptistin beschäftigt.

Wenn Ihr Kind demnächst (nach den Sommerferien) eingeschult wird, oder wenn eines Ihrer Kinder Schulprobleme oder Lernschwierigkeiten hat, kann sich eine kurze Überprüfung der Ausrichtung der Augen und Konvergenzfähigkeit sehr lohnen. Vereinbaren Sie doch einfach einen Termin; Sie können auch gleich mit der ganzen Familie kommen für eine zeitsparende und aufschlussreiche Untersuchung aller Betroffenen!

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