Eine totale Enttäuschung sei der Besuch von Strabos Hortulus auf der Reichenau gewesen, berichtete mir eine Kräuterfachfrau am Abend des 6. Juli, der ich zufällig begegnete. Sie hatte den Garten an Pfingsten selbst besucht, und fand nichts als eine sehr bescheidene, kleine, sich auf eine rudimentäre Zweckmässigkeit beschränkende Ansammlung von nüchternen Kräuterbeeten vor. Mit einer etwas merkwürdig anmutenden poetischen Beschriftung zu den einzelnen Pflanzen, welche möglicherweise als völlig unpassend zum nüchternen Anbau empfunden wird.
Ein Highlight sei die Exkursion (nicht nur) zu Strabos Hortulus auf der Reichenau gewesen, sagten hingegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der von mir geführten Exkursion an diesem 6. Juli.
In der Tat ist es völlig verständlich, dass der Besuch von Strabos Hortulus ohne Hintergrund-Informationen ernüchternd ausfällt. Erfährt man jedoch von der Zeitgeschichte
- Karl der Grosse: „Capitulare de villis …“
- Wahlafrid Strabo: „Hortulus“
- Kloster Reichenau: St. Galler Klosterplan
dann erkennt man die sensationelle Bedeutung des nüchternen Hortulus an einer Zeitenwende: Der Anbau und die Pflege von (mehrheitlich mediterranen) Kultur- und Heilpflanzen in Karl des Grossen Europa wurde geregelt und propagiert. Dies als Teil eines unglaublichen Entwicklungsschritts, der auch den Städtebau (St. Galler Klosterplan), die Vorratshaltung, die Entlöhnung der Landarbeiter etc. umfasste.
Wahlafrid Strabo beschrieb die Tugenden, Anwendungen und Nutzen der Heilpflanzen auf eine wunderbar poetische Art, die auf Latein wie auch in Deutscher Übersetzung fasziniert. Diese Poesie steht in markantem Kontrast zur totalen Nüchternheit des Gärtchens selbst. Ohne sich in die Verse zu vertiefen, bleibt der Besuch des Hortulus verständlicherweise ein ernüchterndes und frustrierendes Erlebnis.
In Strabos Gedichten erkennen wir (sofern wir darauf aufmerksam [gemacht] geworden sind) die Benediktiner Tradition. Vergleichen wir diesen Zugang zur Heilkunde mit anderen Traditionen, z.B. der Kartäuser (in unserer Nähe: Kartause Ittingen bei Warth), wird ein geradezu diametraler Gegensatz erkennbar. Ebenso diametral sind z.B. die Gegensätze der „Naturheilkunde“ der Halbkantone Appenzell Innerhoden und Appenzell Ausserhoden, also eines katholischen und eines reformierten Heilkunde-Verständnisses.
Diese historischen Weichenstellungen sind keineswegs abgehakte Angelegenheiten vergangener Epochen, sondern haben deutlich erkennbare Auswirkungen in unsere Gegenwart und Zukunft!
So ernüchternd also das vordergründig unscheinbare und unattraktive Gärtchen des schielenden Mönchs (Strabo = der Schielende) an der Klostermauer in Mittelzell auf der Reichenau sein mag: mit den zugehörigen Informationen „verwandelt“ es sich in ein Juwel der Europäischen Kulturgeschichte, einschliesslich der Gartenkultur!
Die nächste Station der von mir geführten Exkursion (dieses Jahr eben am 6 Juli 2013) sind jeweils die Kräutergärten bei der Seeburg in Kreuzlingen: ein prachtvoll angelegter und intensiv gepflegter Heilpflanzen-Schaugarten, ein Küchenkräutergarten, ein Färberpflanzengarten und ein Bach-Blüten- Garten. Mehr als ein Jahrtausend liegt zwischen der Zeit Strabos, deren Zeuge wir am Vormittag geworden sind, und unserer Zeit, die sich in diesen aktuelleren Gärten widerspiegelt.
Vielleicht darf ich Sie nächstes Jahr als Teilnehmerin oder Teilnehmer auf dieser Exkursion leiten? Es ist der Blick hinter die Kulissen, der Faszination weckt. Mein Insiderwissen stelle ich Ihnen gerne zur Verfügung, damit der Besuch bei Strabos Hortulus zu einem unvergleichlichen Erlebnis und Highlight wird.